Mehr als ein Flussübergang, viel mehr!
Kennen Sie Duplo? Bunte Spielbausteine, mit denen kleine Kinder Türme, Häuser und Brücken bauen. Zu Hause, auf dem ebenen Boden des Kinderzimmers, da klappt das gut. Nun packen Sie die Duplo-Steine samt dem Sprössling auf den Rücksitz und verreisen ins Gelände. Eine Brücke gehört schliesslich ins Gelände und nicht ins Kinderzimmer, oder? Die verlassene Kiesgrube bietet perfekte Rahmenbedingungen: Ein Rinnsal in der Fahrspur muss dringendst überbrückt werden. Also, ans Werk!
Die Sache mit der Brücke macht nicht wirklich Freude. Die polierten Einzelteile wollen partout nicht auf den Steinbrocken haften; das ganze Konstrukt hängt trotz aller Stützversuche bedrohlich schief. Durch massive Umgestaltung der Brückenumgebung lässt sich die Sache etwas mildern. Die Brücke steht zwar, aber belasten wollen wir sie lieber nicht. Und sie passt hinten und vorne nicht in die Landschaft. Ästhetisch ein Murks!
Aus vorfabrizierten, genormten Bausteinen eine Brücke bauen – den Duplo-Vergleich lässt Stefan Bodmer gelten: «In manchen Ländern konstruiert man Brücken nach einem solchen ‚Baukastensystem’. In der Schweiz dagegen ist keine Brücke gleich wie die andere.»
Stefan Bodmer leitet bei der Aarauer Baufirma Rothpletz, Lienhard + Cie die Abteilung Tiefbau. Den Bau der Reussbrücke Gnadenthal hat er als Projektleiter aktiv begleitet.
Herr Bodmer, bei uns also keine Duplos im Brückenbau?
Nein, wir bekennen uns zu einem grundsätzlich anderen Verfahren. Bei uns hat jede Brücke ihre individuelle Charakteristik. Duplo-Bausteine sind in Grösse, Form und Farbe genormt. Damit lassen sich ohne Zweifel Brücken bauen, aber das System bedingt umfangreiche Eingriffe in die Landschaft. Wir verfolgen einen andern Weg.
Konkret, bitte!
Erstens müssen sich unsere Brücken den Landschaftsformen anpassen, nicht umgekehrt. Zweitens geben wir den Brücken eine ästhetisch ansprechende Gestalt. Und drittens – oder erstens! – muss die Brücke natürlich auch unter extremen Bedingungen stabil und sicher sein.
Auch bei Erdbeben mit einer Stärke von 6,0 wie kürzlich in Italien?
Das gehört zu den Auflagen. Die Erdbeben, die in Italien grosse Schäden anrichteten, hätte die Brücke Gnadenthal mit 100%iger Sicherheit überlebt. Dies nicht zuletzt wegen der Stahlbetonkonstruktion. Sie ist auf Druck-, Zug- und Verwindungskräfte ausgelegt. Bei einer «Duplo»-Brücke sähe das unter Umständen anders aus.
Stichwort Gnadenthal: Worauf mussten Sie achten?
Wir befinden uns dort in einer sensiblen Flusslandschaft, die unter Schutz steht. Eine Duplo-Brücke wäre da ein Unding! Um zukünftige Hochwasser intakt zu überstehen, überspannt die Brücke die Reuss auf höherem Niveau, als es der Vorgängerbau tat. Weiter nimmt die Linienführung auf die bestehende Strasse von Niederwil nach Stetten Rücksicht und auf die Bedürfnisse des ehemaligen Klosters. Der grössere Bogen der Zufahrtstrasse garantiert einen direkten Zugang von den Parkplätzen zu den Klostergebäuden. Früher wirkte die Strasse als Barriere.
Und in ästhetischer Hinsicht?
Verschiedene bauliche Massnahmen verleihen der Gnadenthaler Brücke eine überraschende Leichtigkeit. Im Grunde genommen besteht sie aus zwei Teilen: Direkt über den Pfeilern aus einer Stahlbrücke in Hohlkastenform. Sie trägt das Ganze. Darüber liegt eine Stahlbetonplatte, die eigentliche Fahrbahn. Die Zweiteilung im Längsschnitt hat eine reizvolle optische Wirkung, auch wegen der unterschiedlichen Materialien: oben grau, unten rostbraun. Dieser Eindruck wird noch «dreidimensional» verstärkt: Die Brücke beschreibt eine schwache Kurve, die Fahrbahn einen ebenso schwachen «Hügel», und sie ist gegen innen geneigt. Das alles dient sowohl der Statik als auch der Ästhetik.
Sie haben die Pfeiler noch nicht erwähnt.
Tja, das ist ein Kapitel für sich. Der Bau von Brückenpfeilern ist an sich ein bekanntes und seit Jahrhunderten erprobtes Verfahren. Für die Pfeiler der Reussbrücke Gnadenthal, insbesondere für die Schalung, spannten wir aus gutem Grund mit der Bündner Firma Cosenz zusammen.
Die Firma Cosenz in Trimmis ist spezialisiert auf den Bau von anspruchsvollen Schalungen. Jedes Baugeschäft ist in der Lage, Stützschalungen für einen einfachen Pfeiler zu errichten. Sobald Rundungen oder verwinkelte Formen zu schalen sind, wird es schwierig. In Gnadenthal haben die Pfeiler einen elliptischen Querschnitt, und sie verjüngen sich gegen oben. Schliesslich nehmen sie eine Y-Form an; der Brückenkörper ruht also auf je zwei Pfeiler-Ästen.
Diese Ausgangslage bildete für die Cosenz-Leute ein Novum. Verkaufsleiter Patrik Hug erläutert das Problem: « Die Rundungen und die konische Gestalt waren schwierige Vorgaben! Wir mussten jede einzelne Latte so zurechtsägen und einpassen, dass die erwünschte Form entsteht.» Die Firma verfügt über eine grosse Erfahrung, und doch: «Ich habe noch nie erlebt, dass wir zwei Mal die gleichen Pfeilerschalungen hergestellt haben. Jede Brücke hat ihr eigenes Gesicht, ihre individuelle Form. Das stellt uns vor immer neue Herausforderungen.»
Herr Bodmer, sprechen wir vom Geld! Das alles muss ja schweinisch teuer sein.
Tendenziell ist eine individuell gestaltete Brücke tatsächlich teurer als eine Konstruktion mit genormten Bauelementen. Das muss aber nicht unbedingt der Fall sein.
Bitte erklären Sie das.
Nehmen wir an, Ihre Brücke soll 124 Meter lang werden. Die «Duplosteine» sind aber je 10 Meter lang. Sie müssen die Brücke also künstlich auf 130 Meter verlängern oder mit 120 Metern auskommen. Das wirkt sich massiv auf die Kosten aus. – So oder so stellt sich immer die Frage, welchen Gegenwert Sie für Ihr Geld haben. Sensibilität, Sicherheit und Ästhetik haben ihren Preis.
Kontakt
Rothpletz, Lienhard + Cie AG
Schiffländestrasse 35
5001 Aarau
T +41 62 836 91 11
rlinfo@rothpletz.ch
www.rothpletz.ch