Der Berg ruft
Mittwoch, 20. Juli. Die Tour de France im Wallis. Zielankunft auf rund 2000 Metern, auf der Staumauer des Lac d’Emosson. Es ist heiss, richtig heiss. Und es soll heute noch heisser werden. Da verwundert es nicht, dass viele Rad-Amateure schon in den frühen Morgenstunden unterwegs sind. Alle in derselben Richtung, als läge dort oben das Schlaraffenland.
Die Fahrstile könnten unterschiedlicher nicht sein: Zwischen nach Krampf schmeckendem Hin-und-her-Wippen bis hin zu geschmeidigem, fast anstrengungslos erscheinendem, rundem Treten, und da sind sogar einige Flyer zu entdecken. Doch etwas haben sie alle gemeinsam: Kein Blick nach links oder rechts; hinauf, nur immer hinauf geht ihr ganzes Streben. Männer, Frauen, Alte, Jugendliche, selbst einige Kinder – hinauf, hinauf!
Um die Mittagszeit hat der Radfahrer- und Fussgängerstrom schon markant zugenommen. Wir hatten zwar von der magischen Anziehungskraft der Tour gehört, aber so hatten wir es uns denn doch nicht vorgestellt. Ein nie abreissender Fluss, den es entgegen aller physikalischen Gesetze bergauf zieht – der Berg ruft!
Nationalflaggen, Aprikosen und ein Wikinger
Wir sind zu Fuss unterwegs, natürlich auch bergauf. Am Strassenrand ein Camper am andern. Aus halb Europa sind sie angereist, die Tour-Fans, aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien, Slovenien, Spanien, Tschechien, Grossbritannien, aus Lichtenstein und natürlich aus der Schweiz, dazu verblüffend viele aus Norwegen – ein europäisches Stelldichein, ein grenzenloses Happening. National- und Provinzfahnen sind aufgespannt, Leibchen werden gleich neben Walliser Aprikosen zum Verkauf angeboten. Ein besonders Geschäftstüchtiger präsentiert eine grosse Auswahl an Getränken, die Flaschen in Eisstückchen gelagert.
Hinauf, hinauf! Ein freundlicher älterer Spanier wechselt einen Gruss: «Hola!» – «Hallo!» Weiter gehts. Die leicht übergewichtige Dame am Picknicktischen nickt uns zu und deutet ein Winken an. Ein paar Schritte weiter vier Männer, ins Kartenspiel versunken, und daneben dösen sie immer noch im Zelt. «Sie sind aus Norwegen angereist?» – «Ja, wir waren eine Woche in Spanien und haben die Rückfahrt so eingerichtet, dass wir hier frühzeitig einen guten Standplatz beziehen konnten.» – «Und worin besteht der Reiz für sie? Rein sportlich ist bei einem Strassenrennen doch fast gar nichts zu sehen: Sssssst – und vorbei sind sie!» – «Ja, da haben Sie Recht. Es geht uns vielmehr um das ganze Drumherum, um das Volksfest, um die Ambiance, ausgerichtet auf den einen Moment, in dem das Maillot jaune vorbeifährt.» – «Aber Ihre Landsleute unterstützen Sie gewiss nach Kräften.» – «Logisch! Wir haben ja auch deren Namen auf den Asphalt geschrieben.» Zwei in ihre Landesfahnen gehüllte Kolumbianer gehen vorbei. Dahinter zwei Schweizer, von der Perücke bis zu den Sohlen vollständig Rot-Weiss. Ein Wikinger müht sich bergauf. Alles lacht. So heiter der Himmel, so vergnügt und ausgelassen die Menschen.
Die Spannung steigt
Da oben auf dem kleinen Wiesenstück haben wir einen guten Überblick. Nur die Ameisenfamilie, deren Heim wir «besetzen» – wörtlich! –, zeigt sich not amused. Ein Alphorn-Quintett pustet sich die Seele aus dem Leib. In etwas holperigem Gleichschritt, ihre Instrumente aufs Gröbste malträtierend, passiert eine Guggenmusik aus Martigny.
Da geschieht etwas Merkwürdiges. Ohne erkennbaren Grund beginnt sich die Strasse zu leeren. Die Menschen postieren sich hinter den Abschrankungsgittern, die noch kurz vorher niemanden beindruckt haben. Die Spannung steigt. Der Geräuschpegel geht ganz leicht zurück. Motorräder rauschen vorbei, die Blaulichter und die Signalhörner angestellt. Der Tour-Tross nähert sich.
Zwei Dutzend gewaltige, topp moderne Mannschaftsbusse. Dahinter zahllose Reklamefahrzeuge, fantasievoll gestaltet als Picknickwiese, als brütende Gluggere, als überdimensionierter Pneu, als gigantische Madeleine, als Familie Mickey Mouse. Give-aways fliegen ins Publikum, Probiererli und Dächlikappen und allerlei Müschterli, vom Reinigungsmittel bis zum Kugelschreiber. Die Leute stürzen sich drauf wie Geier.
Noch mehr Motorräder, Polizei, Kamerateams. Hubschrauber lärmen am Himmel. Und da nähert sich, gleich der La-Ola-Welle im Fussballstadion, ein Brausen, ein akustischer Tsunami. Kein Zweifel: Die ersten Fahrer kommen! Die Menschen klatschen, rufen, johlen, feuern an, brüllen, toben, schwenken Fahnen, betätigen Luftdruck-Hörner – eine riesige Schall-Schlange wälzt sich den Berg hinauf. Und mittendrin die Fahrer. Es ist absurd: Sie gehen fast unter in all dem Krawall und Getriebe. In Zweier- und Dreiergruppen tauchen sie auf, die Leibchen weit offen, klatschnass vom Schweiss, den Blick geradeaus, scheinbar unbeeindruckt von all dem, was da um sie herum passiert. Keiner nickt, keiner lächelt, keiner hebt einen Finger zum Gruss. Sie sind in einer andern Welt.
Mit dem Tunnelblick
Was mag in diesen Sportlern vorgehen? Freuen sie sich über den gewaltigen Aufmarsch, über die Anfeuerungsrufe? Ärgern sie sich über den ganzen Lärm? («Lasst mich doch einfach in Ruhe zum Ziel hoch fahren.») Nehmen sie – mit dem Tunnelblick unterwegs – das alles gar nicht wahr?
Der Lärm schwillt an. «Bravo, bravo!, hopp, hopp, hopp!» Das gelbe Tricot des Gesamtersten war eben einen kurzen Moment zu sehen. Irgendwie unwirklich: Radfahrende Marionetten eines gigantischen Werbe- und Unterhaltungsspektakels. Kaum auszumachen sind sie, um die es eigentlich geht. Sie strampeln sich die Seele aus dem Leib, und einzelne von ihnen verdienen auch ganz schön dabei. Das grosse Geschäft aber machen andere, die irgendwo diskret im Hintergrund bleiben.
Das Spektakel ist aus. Wir pusten durch und klettern von unserer kleinen Wiese wieder ins Dorf Finhaut hinunter. Als hätte er sämtliche Schleusen geöffnet, schickt der Stausee die Menschenmassen wieder talwärts.
Mensch, habe ich einen Durst!
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